Gemeindebrief
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Andacht über ein Foto
Aus dem Gemeindebrief September - Oktober - November
Liebe Leser*Innen,
im Dezember 1970 besucht der damalige Bundeskanzler der Bundesrepublik, Willy Brandt, Polen. Es ist die erste Reise eines Bundeskanzlers in das Land, das 1939 von den Deutschen überfallen wurde. Zum Protokoll eines solchen Besuches gehörte ein stilles Gedenken am Grabmal des unbekannten Soldaten. Willy Brandt äußerte darüber hinaus den Wunsch, auch das Ehrenmal am Ort des ehemaligen Warschauer Ghettos zu besuchen. Von 1940 bis 1943 wurden in diesem Ghetto Jüdinnen und Juden aus Polen unter unmenschlichen Bedingungen auf engstem Raum eingesperrt. Von dort wurden die meisten von ihnen in Vernichtungslager abtransportiert; nur wenige haben das überlebt. Nach einem Aufstand im April 1943 wurden mehrere zehntausend Menschen von der SS getötet, und das gesamte Viertel wurde zerstört.
Im Gedenken an die Opfer erbat Willy Brandt, an diesem Ort einen Kranz niederlegen zu können. Nachdem er die Schleifen des Kranzes gerichtet hatte, trat er ein paar Schritte zurück und – sank vor dem Denkmal auf die Knie. Niemand hatte mit dieser Geste gerechnet, auch nicht die westdeutschen Politiker, die ihn damals begleiteten.
Viel ist über den „Kniefall von Warschau“ geschrieben worden. Die einen vermuteten eine geschickte Inszenierung. Andere kritisierten, er sei vor einer kommunistischen Regierung in die Knie gegangen. Brandt hatte aufgrund seiner Ostpolitik mit dem Ziel der Aussöhnung viele Anfeindungen zu ertragen. Er selbst hat immer wieder betont, dass er an diesem 7. Dezember 1970 aus dem Moment heraus gehandelt hat; im Bewusstsein der Last der deutschen Schuld sei er auf die Knie gesunken.
Brandt selbst hatte sich während der Nazi-Zeit nichts zuschulden kommen lassen. Er war schon 1933 nach Norwegen emigriert, hatte nie an den Verbrechen der Wehrmacht oder der SS teilgenommen. Und doch war ihm diese Geste wichtig.
Wie immer man zu der Person oder der Politik Brandts stehen mag: Ich finde, sein Kniefall in Warschau war ein gelungenes Zeichen der Bitte um Verzeihung und zugleich ein Zeichen für das Eingeständnis der Schuld. Eine solche Geste kann Grenzen überwinden und Versöhnung ermöglichen.
Wir alle brauchen Barmherzigkeit und Versöhnung, gerade auch die Politiker. Es gilt noch immer das, was Paulus in seinem Römerbrief geschrieben hat: „Alle sind schuldig geworden und haben keinen Anteil mehr an der Herrlichkeit Gottes.“ Deshalb können wir nur dankbar sein, dass Gott uns weiterhin seine Gnade schenkt, jeden Tag neu, trotz unserer vielen Mängel.
Es grüßt Sie
Pastor Rothkirch